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NIGHTWISH - WISHMASTER (2000)

  • Disc Man B
  • 4. März 2016
  • 4 Min. Lesezeit

Dies hier soll aufzeigen, dass ich etwas so Tolles wie NIGHTWISH beinahe nicht mitgekriegt hätte, obwohl man mich ständig mit der Nase drauf gestossen hat. Natürlich gab es Gründe für meine Ignoranz, triftige Gründe sogar. Aber lasst mich etwas ausholen.

Es sollte nochmal ein Festivalbesuch werden wie früher: Campen, rocken, konsumieren. Wir bezogen Quartier am Festival in Frauenfeld: Eine handvoll gestandener Männer, die für ein ganzes Wochenende so zu tun gedachten, als würde es ihnen nichts ausmachen, ihre alten Knochen auf dem harten Schorf der Erde zu ruhen, in der sengenden Sonne kesselweise Bier zu trinken und mit viel jüngeren Kids einen draufzumachen. Es kam völlig anders. Und gleichzeitig doch genau so.

Der erste Tag war wie eine Klassenfahrt durch den Backofen. Wir bauten unser Zeug auf, und dabei zeigte sich schon, dass wir nicht mehr der aktuellsten Generation von Festivalbesuchern angehörten. Wir behandelten unser Campingmaterial nämlich so, als würden wir es am Schluss der Sause sorgsam abbrechen und wieder mit nach Hause nehmen anstatt es abzufackeln und auf der geschändeten Wiese zu abandonieren. Was soll's.

Danach gab es Alkohol. Und weil es ein heisser Tag war, mussten wir uns beeilen, das Bier wegzutrinken bevor es überkochte. Mehr kann ich von diesem Tag beim besten Willen nicht berichten.

Am zweiten Tag wurde es noch schlimmer. Herr P.J. und der Autor dieses fabelhaften Werkes sahen sich auf der Suche nach einem kühleren Plätzchen schon früh gezwungen, das Festivalgelände zu verlassen. Wir fanden Kühlung im nahegelegenen Flussbett. Im kalten Wasser liegend, mit je einem Harass Bier auf den Bäuchen, liess sich die Hitze aushalten, und man wurde nicht weggeschwemmt. Aber jeder Harass geht einmal zur Neige, und so kehrten wir nach Sodom zurück.

Dort angekommen, teilte mir T.R. verschwörerisch mit, er habe soeben eine Einskommafünfliterflasche mit gefrorenem Vodka & O-Saft aufgetrieben. Und weil es ein heisser Tag war, mussten wir uns beeilen, das Gebräu wegzutrinken bevor es auftaute. Mehr kann ich von diesem Tag beim besten Willen nicht berichten.

Am dritten Tag ging es vor allem darum, den Pegel hoch zu halten und nicht abzuschlaffen. Bis dahin hatten wir keine einzige Band gesehen, und mir dämmerte langsam, dass dies so bleiben würde. Mir ging ehrlich gesagt auch langsam der Drang danach etwas ab.

Immerhin hatten wir ein komfortabel eingerichtetes Camping-Zuhause, einen schier unerschöpflich scheinenden Vorrat an Alkohol und Grillwaren. Wir waren also bequem mit Nichtstun beschäftigt und damit ziemlich ausgelastet und zufrieden.

Doch dann kam das, was wir im Nachhinein T.F.'s PITA-Phase (Pain In The Ass) nannten. T.F., bislang im Verlaufe des Festivals nur in Erscheinung getreten, wenn es uns nach Cherrytomaten, Streu Mi-Gewürz oder Petersiliendekoration gelüstete, hatte aus Gründen, die uns damals allen schleierhaft waren, plötzlich Hummeln im Hintern. Schon am frühen Abend begann er etwas von "Neitfisch" zu faseln und steigerte sich beim Einbruch der Dunkelheit regelrecht in etwas rein. "Will abrocken" nuschelte er immer weiter und wurde von Stunde zu Stunde unrelaxter und ungemütlicher. "Will abrocken, will abrocken." Es war echt unangenehm.

Schliesslich gaben wir nach und liessen uns von ihm zur Hauptbühne zerren. Dort vorne machten ein paar fies aussehende Jungs schon ziemlichen Krach und T.F. sprach "yeah, abrocken!". So viel bekamen T.R., der den Platz neben mir eingenommen hatte, und ich gerade noch mit. Aber unser Interesse galt ganz eindeutig dem mitgeschleppten Bier.

Ja, und dann betrat Tarja Turunen die Bühne und die Erde hörte mit einem Knarren auf, sich um ihre Achse zu drehen und alles kam unter einem Ächzen zum Stillstand.

Tarja...

Tarja...

Ich lasse mir den Moment jetzt gerade nochmal mental auf der Zunge zergehen.

Tarja betritt die Bühne, gewandet in eine lange Robe, headbangt sich mit ihrem rabenschwarzen Schneewittchenhaar zielstrebig in unser getrübtes Bewusstsein und beginnt zu singen. Ihre klassisch ausgebildete Stimme schwingt sich hoch über den Soundbombast der Band und bleibt dort. Thronend, in einer eigenen Sphäre, allmächtig.

Wie hätten wir auf so etwas vorbereitet sein können? Es trifft uns an diesem Abend völlig unerwartet, und es ist wie eine Offenbarung. Die Kombination aus Tarjas optischer sowie akustischer Präsenz und den diversen, selbstzerstörerisch hoch dosierten Alkaholika haut uns um, und wir wissen nicht, wie uns geschieht. Als wären wir mit einer klebrigen Masse übergossen worden, verfallen T.R. und meine weggetretene Wenigkeit in lähmend langsame, aber erstaunlich synchrone Bewegungen: Kinnladen klappen nach unten und Bierdosen umklammernde Hände halten auf halbem Weg zum Mund inne, als hätte man ihnen den Strom abgedreht. Für eine unbestimmte Zeit bleiben wir genau so da stehen wie zwei Schnappschüsse. Wir starren auf die Grossleinwände, auf Taria, auf die Band und vergessen beinahe zu existieren. Wir sind weggeblasen, überwältigt, und vom Scheitel bis zur Sohle gerockt.

Dann, irgendwann, ruckelnd wie ein Güterzug, kommt die Erde langsam wieder in Bewegung und nimmt ihre Drehbewegung wieder auf, unser Blickfeld weitet sich wieder auf die branchenüblichen ca. 30 Grad der Volltrunkenen und es dämmert uns, dass wir gerade eine simultane Erleuchtung erlebt haben.

Auf weichen Knien stehend heben wir unsere Bierdosen, nicken uns wissend zu und kommentieren die Szene mit einem nonchalanten "kommt gut" oder etwas ähnlich Tiefgründigem. Dass wir erschüttert sind, brauchen wir nicht zu erwähnen.

Ein paar Meter weiter vorne dreht sich ein zufriedener T.F. zu uns um, grinst sein breites Grinsen und ruft "abrocken!"

In meiner Erinnerung war das Festival unmittelbar nach NIGHTWISHs Auftritt zu Ende. Aber meine Erinnerung ist manchmal ein diffuses Miststück. Jedenfalls gab es ihr zufolge keine weiteren Highlights mehr zu verzeichnen, weder auf den Bühnen noch in unseren Zelten.

Lediglich die Heimfahrt sei hier noch erwähnt, beziehungsweise das Intermezzo mit den Vertretern der Thurgauer Kantonspolizei, die uns kurz vor der Autobahn aus dem sprichwörtlichen Verkehr zogen. Die hatten sich den letzten Festivaltag schon vor Monaten dick und fett im Kalender angestrichen, und so abgeschlagene Festivalheimkehrer wie wir waren an diesem Tage genau ihre bevorzugte Zielgruppe.

In P.J.s Karre eingepfercht, zwischen Campingmaterial und dreckigem Zeug, mit einem völlig weggetretenen M.H., der auf dem Rücksitz schlafend sein seit Tagen ungewaschenes Gesicht ans Fenster gepresst hielt, boten wir einen jammerhaften Anblick.

Der Fahrer, ebenfalls in desolatem Zustand, beantwortete die zackig gestellten Fragen der Staatsdiener mit apatischen "M-hms" und "H-ms". Ein erstaunliches Zusammenspiel von akustischen Gegensätzen, fast genauso wie Tarjas Stimme und dem Bombast von NIGHTWISHs Sound.

Wie wir da straffrei wieder rauskamen ist mir heute genau so schleierhaft, wie weshalb ich NIGHTWISH so lange nicht auf dem Radar gehabt hatte.

So oder so hat uns T.F.s PITA-Phase davor bewahrt, einen denkwürdigen Gig zu verpassen. Manchmal sollten wir unseren Mitmenschen eben doch etwas mehr Beachtung schenken, auch wenn sie sturzbetrunken sind und frische Petersilie an ein Festival mitbringen.

In me the Wishmaster.

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